Was heutzutage fröhliche Urstände feiert: das Klassikalbum vermeintlich längst vergangener Zeiten in Form eines Potpourri, also mit einer Ansammlung verschiedener beliebter kleinerer Werken oder Melodien, dies gerne von unterschiedlichen Künstlern bzw. Ensembles gestaltet wurde. Neu ist, dass diese Alben regelmäßig einen speziellen Klassik-Künstler präsentieren, der gerade en vogue ist, und der unter einem mehr oder weniger abstrusen Albumtitel kurzfristig gewinnbringend auch für ein Publikum vermarktet werden soll, das von dem expliziten Hinweis auf klassische Komponisten und Kompositionen vom Kauf abgeschreckt werden würde. Das alles kann man als trauriges Abbild des bedauerlichen Niedergangs der Label-Kultur ehemals großer Klassikmusik-Konzerne verstehen, die heutzutage überwiegend von Managern geführt werden, die mit Klassik an und für sich nichts am Hut haben und die lediglich die Reste ehemaliger Klassik-Label-Imperien zu Tode verwalten.
Diese Label-Politik findet man bei kleineren und kleinen der in bester, althergebrachter Weise der Klassik-Vermittlung engagierten Label so gut wie nicht. Ein positives Beispiel ist das Label Berlin Classics, bei dem der deutsche Pianisten Matthias Kirschnereit, der seine Karriere abseits der kurzlebigen Schnellvermarktung junger Pianisten langfristig überaus erfolgreich gestaltet, und der sich aktuell mit dem Album Beethoven Unknown Piano Works in das aktuelle Beethoven Jubeljahr einmischt. Was auf den ersten Blick nach einem dem Jubilar Beethoven gewidmeten Potpourri ausschauen mag, ist ein fern dem Mainstream der Gratulanten überaus intelligent zusammengestelltes Programm von Beethoven Klavierstücken, das auf ein einziges Album konzentriert die Arbeits- und Wirkungsweise dieses Musik-Giganten wiederspiegelt, die dem Lauf seines Lebens folgend völlig unterschiedliche Werke gezeitigt hat, auch solche Werke, die man bei genauerer Betrachtung diesem Komponisten nicht zuordnen würde. Es ist das nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst von Matthias Kirschnereit, der Genesis der Beethoven Klavierwerke auf seinem aktuellen Album unter Einbeziehung von scheinbar Widersprüchlichem in spannender Weise quasi im Schnelldurchgang aufzuzeigen. Und es ist das Verdienst des Labels Berlin Classics, dieses Album ermöglicht zu haben, das über die Person des Bonner Komponisten mehr aussagt als so manches im Beethoven-Jahr erschienene Album mit den allseits bekannten Sahnestücken des wiederborstigen Genies.
Matthias Kirschnereit fasst seine Motivation, dieses Beethoven Album eingespielt zu haben wie folgt zusammen: „Es geht mir bei diesem Album darum, Werke von Beethoven, die vielfach nicht im allgemeinen Fokus stehen, in neuem Glanze erscheinen zu lassen. Darunter auch Stücke, die nicht unbedingt zum Ziel haben, die Welt zu verändern. Ich bin kein Archäologe, der auf Dachböden stöbert oder in Bibliotheken und Archiven noch nicht Veröffentlichtes sucht und findet. Alles ist längst verlegt. Dann habe ich mich an die Zusammenstellung gemacht – und kam aus dem Staunen nicht heraus.“
Die Unknown Solo Works von Beethoven beleuchten den kompositorischen Start des Zwölfjährigem bis hin zum Klavierstück in g-Moll WoO 61a aus dem Jahre 1825 mit dem Beethoven zu Herzen gehend den tragischen Verlust seins Gehörs beklagt. Einen Höhepunkt erreicht das Beethovenschen Klavierschaffen mit seinem Präludium in f-Moll, das Matthias Kirschnereit als intensives Zwiegespräch zwischen Beethoven und Johann Sebastian Bach „bei Kerzenschein voller Schmerz, Einsamkeit und Melancholie“, wertet. Zu den weniger Beethoven-liken Klavierwerken von seinen Unknown Solo Works, die das Bild des Komponisten jenseits seines allseits anerkannten Giganten Status abrunden, gehören die Polonaise in C-Dur op. 89, l das Allegretto in c-Moll WoO 53, die Ländlerischen Tänze in D-Dur WoO 11, die Sonate in f-Moll WoO 47 oder die Ecossaisen in Es-Dur WoO 83.
Dieses Album erweist sich bereits zu Beginn des Beethoven Jubiläums 2020 als wichtiger Beitrag zu den andauernden Feierlichkeiten, der den Zuhörer auf eine Reise ins weniger bekannte Universum des Klaviermusik-Komponisten mitnimmt, die sich durch den pianistisch exzellenten Einsatz des kompetenten Reisführers Matthias Kirschnereit als überaus spannend herausstellt.
Matthias Kirschnereit, Klavier