Der dirigentische Wirbelwind aus Vilnius, Litauen, Mirga Gražinytė-Tyla steht seit drei Jahren überaus erfolgreich an der Spitze des City of Birmingham Symphony Orchestra, also des Orchesters, das Simon Rattle als Sprungbrett auf seinen Posten als Chef der Berliner Philharmoniker diente. Ihre weitere Karriere muss die 32-jährige Litauerin ja nicht unbedingt zu den Berlinern führen, zumal dort ja gerade erst der famose Kirill Petrenko zum großen Leidwesen der Münchner Opernszene dabei ist, die Leitung des „besten Orchesters“ auf deutschem Boden zu übernehmen. Jedenfalls ist Mirga Gražinytė-Tyla eine der prominenten Exponentinnen weiblicher Dirigenten, die langsam aber sicher dabei sind, die immer noch männlich dominierte Position des Dirigenten durch großes und mitunter überlegenes Können zu erobern. Man darf gespannt sein, wohin, zu welchen Orchestern und in welche Positionen Mirga Gražinytė-Tyla ihre Karriere noch führen wird.
Dieses Album ist ausschließlich Mieczysław Weinberg gewidmet, dessen Kompositionen über eine lange Zeit nur Spezialisten bekannt waren, die dreizehn Jahre nach dem Tod Weinbergs gerade dabei sind, für den Konzertsaal entdeckt zu werden. Der in Polen geborene und 1939 auf der Flucht vor den Nazis in die Sowjetunion emigrierte Weinberg fand an der Oper in Taschkent Arbeit und Brot. Vier Jahre Später lud ihn der auf die erste Weinberg-Sinfonie aufmerksam gewordene Dmitri Schostakowitsch in die russische Hauptstadt ein. In Moskau war Weinberg bis zu seinem Tod als freier Komponist aktiv. Ähnlich seinem Mentor Schostakowitsch wurde Weinberg 1948 als einer „von den ‚kleinen Schostakowitschen‘“ wegen „formalistischer“ Tendenzen gerügt. 1953, kurz vor dem Tod Stalins wurde er unter dem Vorwurf, die Errichtung einer jüdischen Republik auf der Krim propagiert zu haben, inhaftiert. Sein lebenslanger Freund und Mentor Schostakowitsch setzte sich daraufhin mit einem für die Zeit sehr mutigen Brief für ihn ein, seine Freilassung erfolgte letztlich jedoch aufgrund von Stalins Tod (Quelle: Wikipedia). Die Grausamkeiten der Stalinzeit haben Weinberg und seine Kompositionen, wiederum ähnlich seinem Mentor geprägt. Hat Schostakowitsch mit auskomponiertem Sarkasmus die Stalinzeit verarbeitet, setzt Weinberg hier einen mitunter sanften Humor ein. Die Nähe zu Schostakowitsch seine Kompositionen jedemfalls hörbar geprägt. Originalton Weinberg: ”Ich betrachte mich selbst als seinen Schüler, sein Fleisch und Blut.” Auch Gustav Mahlers Einfluss Einfluss auf seine Kompositionen ist nicht zu überhören. Weinberg ist jedoch weder ein Epigone von Mahler noch von Schostakowitsch. Vielmehr hat er eine eigene Musiksprache entwickelt, die uns heute zunehmend anzusprechen beginnt.
Neben sechs Opern hat Weinberg 21 Sinfonien komponiert, von denen sich die Nummern 2 und die letzte Sinfonie, die Nummer 21 mit dem untertiel „Kaddish“ auf dem aktuellen Mirga Gražinytė-Tyla Album finden. An der Aufführung beider Sinfonien ist die Kremerata Baltica unter Leitung ihres Gründers Gidon Kremer beteiligt, der in einer Passage der Nummer 22 von etwa elf Minuten, mit seiner ausgedünnt intonierten Violine gegen eine gespenstische Begleitung von Harfe und Klavier ein gruseliges Schlaflied anstimmt, das dann von Klarinette, Geige und Kontrabass in Art einer Klezmerband konterkariert wird. Auf bislang nioóch nicht gehörte Klangeffekte stößt man in dieser Sinfonie auf Schritt und Tritt ebenso wie auf verfremdete Anleihen wie etwavon Chopin oder Strawinskis Sacre Du Printemps. Einen Höhrepunkt der älteren der beiden Sinfonien stellt der Adagiosatz dar, in dem Mahlers Neunte Sinfonie mit hohen Geigentöne, umgeben von sanften Streichern nachklingt.
Die Entdeckung des lange Zeit vernachlässigten Komponisten Mieczysław Weinbergs geht mit diesem Album, das sämtliche Mitwirkenden und die Aufnahmetechnik in Bestform präsentiert, in ihre nächste Runde. Weiterer Weinberg aus Birmingham ist geplant.
Gidon Kremer, Violine
City Of Birmingham Symphony Orchestra
Kremerata Baltica
Mirga Grazinyte-Tyla, Dirigent